AV - Wortkarge Nordländer am Tisch

«Theater am Tisch» las Szenen aus dem schwedischen Erfolgsroman «Populärmusik aus Vittula»

Ohne falsche Wimpern und doppelten Boden spielten Marcus Schäfer, Diana Dengler und Willi Häne Szenen aus einem schwedischen Bestseller-Roman. Das «Theater am Tisch» vom Samstag wurde organisiert von der Gf! Kulturgruppe. Das Publikum
im Löwensaal in Appenzell reiste mit den hervorragenden Darstellern in ein Land der Erinnerungen, weit im Norden, wo Rentiere über die Strassen laufen und eine Beatles-Platte das Leben verändern kann.

Soviel vorweg: Es hat nicht allen gefallen. Einige Zuschauer kamen nach der Pause nicht wieder. Der Rest aber hat sich sehr gut unterhalten, liess sich berühren, lachte, und staunte ob der grossartigen Schauspielkunst der Akteure am Tisch.

Rauer Norden, raue Sitten

Dieser stand auf einem Podest im Löwensaal. Die Darsteller kamen in Wollmützen, Norwegerpullis und Daunenjacken hereingestapft. Sie spielten Matti und seinen schweigsamen Freund Niila. Einmal war dieser jener, einmal jene der andere. Marcus Schäfer, Diana Dengler und Willi Häne schlüpften in alle Rollen. Man erkannte sie an den Siebzigerjahre-Frisuren. Nebenrollen wurden gleichmässig verteilt.

Sie spielten Kindheitsprägungen und Abenteuergeschichten aus der nördlichsten Ecke Schwedens. Sie lasen aus Mikael Niemis Bestseller-Roman «Populärmusik aus Vittula». Der zeichnet sich durch eine holzschnittartige Sprache aus. Da wird kein Blatt vor den Mund genommen. Wenn Teenager sich in sexualisierter Sprache ausdrücken, dann tut es auch ihr Chronist und so handhabten es auch die Schauspieler. Das war manchmal deftig.

Dazwischen aber gab es wunderbar poetische Sprachbilder. Starke Sätze, die man sich hätte ins Gedächtnis eingravieren wollen: «Seeleneinfangen» an Grossmutters Beerdigung. «Das Himmelreich in sich hinein schlürfen» mit Multbeeren und einer Schüssel Sahne.

Kino im Kopf

Den skurrilen Roman einer schwedisch-finnischen Kindheit und Jugend auf eine Bühne zu bringen, die ein Tisch ist, das ist mutig. Andere haben es sich «leicht» gemacht und den Stoff verfilmt. Eine Aufführung ohne die unwirtliche Landschaft und ohne Filmmusik, fast ohne Kostüme und Requisiten, das verlangt von den Darstellern und den Zuschauern einiges. Letztere müssen ihr Kino im Kopf ankurbeln, genau hinhören.

Diana Dengler und Marcus Schäfer brachten den inneren Projektor zum Schnurren. Sie machten die «Mängel» wett mit einer stupenden Mimik. Herrlich der Schmollmund und die rollenden Augen des erblühenden Mädchens! Unglaublich die teuflisch blitzenden Augen und das schrecklich freundliche Grinsen des ominösen Deutschen! Alles spielte sich in den Gesichtern der Akteure ab; alles war aus ihrer Stimme zu hören.

Sie haben die Szenen gut gewählt, damit der Zuhörer einen Eindruck von der unwirtlichen Gegend und der herben Lebensart in Nordschweden der Sechzigerjahre bekommt. «Drei Herzen in der innersten Astgabel der Wintertaiga.»

Grübeleien führen zu Wahnsinn

Für den fehlenden Soundtrack sprang Willi Häne ein. Der bekannte Akkordeonist bediente die «Schwedenorgel». Die dumpfen Harmoniumklänge passten so richtig zur ärmlichen, wenig gebildeten Provinz, wo richtige Männer alles tun, um nicht weibisch, «knapsu» ? so der Name des Programms ? zu gelten.

In der Sauna werden die Familientraditionen weitergegeben wie Fehden, die Kunst des Rausches und der Umgang mit den Frauen. Dass Rock?n?Roll die Jugendlichen aus dem Dorf Pajala aus den Schuhen kippte, verstand man zu gut, nachdem man von ihren fanatisch religiösen Familien, von der Rattenvernichtung nach Anleitung eines ehemaligen SS-Offiziers und vom strengen wortkargen Wesen der Nordländer gehört hatte. Dagegen helfen nur Träume.

Ziemlich grosses Theater

Das Trio spielte die musikalische Bewusstseinserweiterung durch Elvis und einen modernen Musiklehrer hinreissend. Der Roman von Niemi ist das eine, dessen wilde Sprache das andere. Man kann darüber geteilter Meinung sein. Sicher, man hat manches Mal gelacht: Manchmal über die Situationskomik, in die Teenager unweigerlich tappen, manchmal vor Schreck bei rüden Sprüchen und emotionslosen Gewalttaten gegen Kameraden oder Tiere.

Das was die zwei Schaupieler vom Theater St. Gallen und der Berufsmusiker Häne aus der Geschichte gemacht haben, ist allerdings mehr als eine szenische Lesung oder kabarettistisch-literarische Unterhaltung. Das ist ziemlich grosses Theater ? am
Tisch.

Monica Dörig