AV - Das Leben ist eine Zirkusnummer

Ferruccio Cainero versponn charmant seine Kindheitserinnerungen mit Lebensphilosophie

Das Jahresprogrmm der Gf!-Kulturgruppe begann im Restaurant Alpstein in Appenzell mit einem klingenden Namen: Ferruccio Cainero. Aus nah und fern waren Verehrer und Liebhaberinnen seines feingesponnenen Humors am letzten Samstag angereist.

Man braucht im Leben einen Faden und wenn er auch seidenfein ist. Der Faden der Geschichte hält alles zusammen, er verbindet die Generationen. «Wir können nur weitergehen, wenn wir wissen wo wir losgegangen sind», sagte Ferruccio Cainero. Darum erzählt er Geschichten aus seiner Kindheit. «Darum erzählen wir überhaupt unsere Geschichten, um dem Leben einen Sinn zu geben».

Überbordende Fantasie

Am Samstag versponn er, eingeladen von der Gf!-Kulturgruppe Appenzell, seine Erinnerungen an seine Heimatstadt Udine und deren Bewohner mit philosophischen Gedanken, fantastischen Abenteuergeschichten und lustigen Kinderreimen.

Wie manch anderer Ort diesund jenseits der Alpen ist auch die norditalienische Stadt, in der der kleine Ferruccio ? gesegnet mit einer überbordenden Fantasie ? aufwächst, bevölkert mit skurrilen Persönlichkeiten, die den Alltag prägen. Und doch, wenn man den feinziselierten Geschichten Caineros zuhört, kommt Wehmut auf. Die Märchenwelt ist für viele von uns untergegangen. Wir leben zwar nicht mehr so bescheiden an Gütern, aber oft arm an Fantasie und die Abenteuer kommen aus der Retorte.

Damals begrub die böse Hand des Schicksals den armen Herrn Gremese unter vom Lastwagen stürzenden Baumstämmen. Der Urgrossvater ist während der Flucht vor dem ersten Weltkrieg mysteriöserweise auf einer Brücke verschwunden. Damals unterschieden sich die Kinder dadurch, dass sie blaugefroren von ihren Fahrradmüttern vorne auf dem Sitz abgehärtet wurden oder hinten im breiten Windschatten der Mütter sich die Füsschen in den Velospeichen einklemmten. Heute unterscheiden sich die Kinder durch Migrationshintergrund, Musikgeschmack und Statussymbole. «Es war besser als es schlimmer war», sagen die Alten in Udine.

Geschichtenerzähler

Ferruccio Cainero ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. Seine Erzählungen sind «wahr bis ins kleinste Detail». Er breitet sie vor dem hingerissenen Publikum aus wie einen kostbaren orientalischen Teppich: in präszis austarierter Farbigkeit, mit kunstvollen Wendungen, poetischen Bildern, sprachlich dicht gewebt. Nie lässt er den feinen Faden abreissen: Anekdoten, tiefsinnige Gedanken, Episoden der Weltgeschichte verwebt er miteinander.

In seinem Leben ist er manchem Don Quixote und manchem Sancho Pansa begegnet ? «Modelli universal!». Einem dieser Ritter von trauriger Gestalt hat er als Student geholfen, Dächer und Kamine zu reparieren. Der Don Quixote ernährte sich von einer magischen Mischung aus Kaffee und Zigaretten, seine Rosinante war ein Fiat 1100.

Der kleine Ferruccio hat in kalten Wintern im breiten kuscheligen Bett der Eltern sein Nirwana gefunden. Mit dem rauschenden knackenden Radio hat er Abenteuer am Nordpol inszeniert. Die Helden seiner Tagträume waren amerikanische GI?s oder die mexikanischen Revolutionsführer. «Wir sind aus der Materie unserer Träume gemacht.»

Cantautore Cainero

Mit klug dosierter Mimik und plötzlich ausufernder Gestik liess der italienische Kabarettist in seinem Best Of-Programm «Caineriade» seine Figuren auferstehen. Zum Beispiel Giovanin Gelator, ein südländisches Rumpelstilzchen. Dieser konnte sich so herrlich mit Haut und Haar ärgern ? ein Schauspiel. «Er verkaufte im Sommer die Kälte des Winters»; er befreite sich bei den Kindern mit Fluchen und Zetern von Kränkungen, die er anderswo hat einstecken müssen. «Wir spielen immer irgendwie Theater», weiss Ferruccio Cainero. «Das Leben ist eine Zirkusnummer.»

Er selber wollte immer Sänger werden, hat aber 30 Jahre lang vorwiegend Theater und Kleinkunst gemacht, unter anderem in Milano, immer öfter auch in der Schweiz und Deutschland. Er lebt mit seiner Frau im Tessin, nahe der italienischen Grenze. Heute singe er einfach, auch wenn er nicht die schönste Stimme habe, lachte er von der kleinen Bühne im Restaurant Alpstein. Die Übersetzung der tiefsinnigen Texte in charmant gebrochenem Deutsch macht das allemal wett. So trällerte er einen friulinischen Kinderreim zum gekonnten Gitarrenspiel, den er ? ganz Cantautore ? zum Protestsong erweiterte für alle Afrikaner (ungeliebte Migranten) aller Zeiten. Selbstironisch meinte Cainero, wer zwei mal 50 Minuten Theater in schlechtem Deutsch ertrage, sollte für immer geimpft sein gegen Ausländerhass.

Text und Bild: Monica Dörig