AV – Berauschendes Musik-Kabarett

«Suchtpotenzial» liess die Wände im Kapuzinerkloster erzittern

Ein bisschen haben sie sich gefürchtet vor Appenzell: Ariane Müller und Julia Gámez Martin, zusammen das Musik-Kabarett-Duo «Suchtpotenzial», haben gehört, am Fuss des Alpsteins sei man konservativ, prüde, skeptisch Ausländern gegenüber. Sie wurden eines besseren belehrt: Das Appenzeller Publikum beklatschte ihre freche Show «Alko-Pop 100 Vol.%» frenetisch.

«Ich brauch Appenzeller auf dem Teller, Biber mag ich noch lieber...». Julia kalauert schon am Nachmittag beim Soundcheck im ehemaligen Kapuzinerkloster. Am Abend wird sie mit ihrer Begleiterin, der famosen Pianistin Ariane, das Refektorium rocken. Die beiden werden ihre prachtvollen Mähnen schütteln und ganz schön freche Lieder über Süchte und Männer, über den Sinn des Lebens und Sex singen – und darüber wie fatal das alles miteinander verquickt sein kann.

Freche Schnauze und viel Talent
Die beiden deutschen Künstlerinnen werden – eingeladen von der Kulturgruppe Appenzell – kein Blatt vor das geschliffene Mundwerk nehmen und die Dinge wenn’s sein muss beim Namen nennen. Gut möglich, dass die ehrwürdigen Wände (und ein paar Ohren) wackeln wenn von Penis-Neid und verlegten Rohren gegrölt wird. Einige Zuhörer werden leer schlucken, einige Zuhörerinnen erschreckt kichern. Aber mit ihrem Charme, mit flapsigen Plaudereien zu Innerrhoder und Ausserrhoder Eigenheiten, mit ihrem Staunen über Schwingerfestivals (was bei ihnen ganz andere Assoziationen auslöst als bei Appenzellern), gewinnen sie die Herzen des Publikums mühelos. Mit Berliner Schnauze und schwäbischer Rechtschaffenheit flirten sie mit den Schweizern – Südländer von Deutschland aus betrachtet, mit den Qualitäten der Schwaben: reinlich, arbeitsam, pünktlich. Besser geht’s nicht. Und ihre musikalischen und schauspielerischen Talente reissen die Leute von den Stabellen, auf denen einst Mönche sassen. Die «Girls» bringen in ihrem Programm «Alkopop 100Vol.%» schlaue, wortwitzige, (selbst)ironische und gesellschaftskritische Texte in mitreissenden Melodien unter und mischen die Songs aller Couleur auf mit komischen Posen, Diva-Attitüde und Hardrock-Energie.

Dieses Kabarett kann süchtig machen
Julia, pures Adrenalin aus Berlin, singt inbrünstig Hohelieder auf Bauern und Kaffee; Ariane intoniert Chansons und hehre Klassik am E-Piano gleichermassen brillant. Beide sind mit einer Intensität am Werk, die berauscht wie die besungenen Drogen aller Art. Das fabelhafte Duo verfügt über hochgradiges Suchtpotenzial.
Ihr Metier nehmen sie ebenso aufs Korn wie die Auswüchse des aktuellen Lifestyles. Sie beweisen dabei, dass sie sowohl Oper als auch Hiphop können, sowohl Ballermann-Schlager als auch tiefgründiges Schauspiel. Das Publikum lacht Tränen. Es ist längst angefixt und will die beiden Frauen, die ihrerseits Musical-abhängig sind, nicht ziehen lassen: Da nutzt auch die finale Publikumsbeschimpfung nichts mehr. Frenetischer Applaus lässt die Wände des Klosters erzittern.